Papa, guck mal – so große Schneeflocken! Glaubst du, die hat uns Mama geschickt?
Liebevoll betrachtet er seine kleine Tochter wie sie am Fenster stand und die Schneeflocken zu zählen versuchte. Sie ist so hübsch und ähnelt ihrer Mutter bis hin zum kleinen Muttermal auf ihrer rechten Schläfe.
Sie ist aber auch noch so klein und zerbrechlich – wie sollte er ihr erklären, dass die Mama, auf die sie jeden Abend am Fenster stehend wartet, nie wieder kommen wird?
Er hatte es versucht aber sie hat ihre kleinen Hände auf seine gelegt und ihn mit großen Augen angesehen während sie flüsternd sagte: “Du darfst es niemandem verraten, aber Mama hat gesagt, dass sie immer ganz nah
sein wird – auch wenn wir sie nicht sehen!
Vielleicht wohnt sie ja jetzt bei der Tante?“ Er hat sie angelächelt während es ihm beinahe das Herz zerriss. In dieser Nacht war es ihm zum ersten Mal möglich seinen Tränen freien lauf zu lassen … er weinte über den Verlust seiner großen Liebe, seiner Seelenverwandten.
Er weinte weil er nicht wusste wie es jetzt weitergehen sollte …
In der Erntezeit war seine Frau bereits ans Bette gefesselt und er hatte versucht so viel Zeit wie möglich bei ihr zu sein. Wie es an
der Zeit war das Heu und Holz für den Winter einzubringen lag sie bereits im Sterben. Da niemand wusste wie viel Zeit ihr noch blieb war er die ganze Zeit über im Krankenhaus um für sie da zu sein, während ihre kleine Tochter bei ihrer Tante war. So gab es nun kein Heu im Stall um die Tiere zu füttern und das Brennholz für die den restlichen Winter
neigte sich auch dem Ende.
Seitdem, das war zwei Wochen her, saß er jeden Abend da und weinte bittere Tränen um seinen Verlust und weil er Angst hatte vor der nahen Zukunft. Er weinte unter der Tanne die sie gemeinsam gepflanzt hatten am Tag als ihre Tochter geboren wurde … das war vor fünf
Jahren - einen Tag nach Weihnachten.
In der Nacht auf den Christtag, lange nachdem seine Tränen versiegt waren und er in einen traumlosen Schlaf gefallen war, wurde er aus
selbigem von einem Schrei seiner Tochter geweckt: „Papa, Papa, komm schnell, Mama ist draußen … komm schnell, wir müssen sie reinholen es ist ja ganz kalt“ … Sie zerrte verzweifelt an seinem Arm, während sie immer wiederholte „steh auf – es ist draußen ganz kalt“ und zwang ihn so ebenfalls aufzustehen.
Noch etwas schlaftrunken aber dennoch wach genug konnte er seiner Tochter gerade noch einen Mantel überziehen während sie bereits
zur Tür stürmte und am Türknauf zerrte – den Schlüssel hatte er, wie jeden Abend abgezogen und höher gehängt um zu verhindern, dass
seine Tochter unbeaufsichtigt das Haus verlassen konnten.
Im ersten Moment, nachdem er die Haustür geöffnet hatte, wurde er geblendet – gleißendes Licht stach in seine Augen und sie
begannen zu tränen. Es verging aber genauso schnell wieder wie es begonnen hatte und er konnte kaum glauben was er sah …
Es hatte weiter geschneit und es musste auch kälter geworden sein, denn auf der Tanne, unter der er noch ein paar Stunden zuvor saß und weinte, hatten sich an fast allen Ästen Eiszapfen gebildet. Auf diese Zapfen viel
das Licht von Duzenten Fackeln die verstreut aufgestellt waren. Dadurch sah es aus als würde der Baum von sich aus leuchten. Die
Eiszapfen schwangen leicht und wenn sie aneinander stießen klang es als würden Glöckchen läuten.
Seine Tochter stand im ersten Moment genau so reglos neben ihm wie er selbst, kam aber schneller wieder zu sich und stürmte zu dem Tannenbaum um kurz darauf einen spitzen Schrei auszustoßen “Papa, Papa – guck’ mal was Mama uns gebracht hat“
Noch immer etwas betäubt vom ersten Anblick ging er seiner Tochter entgegen, die freudestrahlend mit etwas in den Händen haltend auf ihn zugelaufen kam. Im ersten Moment wusste er nicht was es war aber schließlich erkannte er darin eine Puppe. Der Körper wie auch die passenden Kleidchen waren handgearbeitet, der Kopf aus hellem
Porzellan mit goldenen Löckchen, wie die seiner Tochter. Die Augen öffneten und schlossen sich durch die hüpfende Bewegung seiner
Tochter ständig.
Dann erkannte er noch etwas – die Puppe hatte seine Frau begonnen zu häkeln noch bevor sie ins Krankenhaus musste – allerdings konnte
sie diese nicht mehr vollenden. Jetzt lag sie in den Armen seiner Tochter und sah so perfekt aus. Genauso wie es sich seine Frau gewünscht hätte. Selbst die kleine dunkle Pigmentstelle auf der rechten Schläfe war
perfekt.
Langsam erkannte er auch noch andere Dinge. Das Tor zum Heustall stand offen und als er sich dem näherte vernahm er den Duft wie nur
trockenes Heu ihn abgeben konnte. Er roch es schon eher als er es sah, glaubte aber keinem der beiden Sinne im ersten Moment: der Stall
war bis zur Decke gefüllt mit trockenen Heuballen – viel mehr, als er bisher selbst immer bei den Ernten hatte einbringen können
Noch immer nicht realisierend was geschehen war sah er beim Verlassen des Stalls die feinst säuberlich aufgeschichteten Holzscheite an der Hausmauer. Die Menge musste für mindestens 2 Winter reichen.
Etwas huschte durch sein Blickfeld, verschwand aber noch ehe er sich dessen bewusst war … als sein Blick wieder auf die Tanne fiel, stand dort ein großer Korb. Er war sich sicher, dass dieser vor ein paar Minuten noch nicht dort gestanden hatte. Als er näher trat sah er flaumiges Brot, ein
paar Päckchen die sich warm anfühlten und herrlich dufteten, sowie frisches Obst.
Seine Tochter stieß einen vergnügten Lacher aus und er konnte gerade noch sehen, wie sie jemandem zum Abschied winkte um anschließend
mit ihrer neuen Puppe im Arm auf ihn zuzuhüpfen.
Als er sich fragte wem sie den zugewinkt habe, deutete sie ihm sich runterzubeugen und flüsterte in sein Ohr “Das waren Engel, sie
haben gesagt sie kommen statt der Mama, weil sie gerade so viel zu tun hat … aber pssssst …. du darfst niemandem etwas sagen sonst
kommen sie nicht wieder zurück …
Er schloss seine Tochter fest in die Arme, nicht nur um die Tränen in seinen Augen zu verbergen … da bemerkte er nochmals eine Bewegung in seinem Augenwinkel und konnte gerade noch sehen wie die beiden Töchter des Nachbarn lachend in der Dunkelheit des verschneiten Waldes verschwanden ….
Engel gibt es wirklich – und oft sind sie viel näher als wir glauben ….